Immer noch: Lieferkettenprobleme und Versorgungsengpässe bei Fahrrädern. Eine gute Metapher, um die Komplexität der globalen Wirtschaft aufzuzeigen.
Erinnert sich noch jemand an die „Ever Given“? Ja genau, jenes Containerschiff, das vorigen März im Suezkanal feststeckte - und dieses Nadelöhr der internationalen Handelswege sechs Tage blockierte.
Neben dem 400 Meter langen Riesenfrachter, dessen Bug sich in die Uferböschung gegraben hatte, brannte sich da noch ein Bild in das globale Bewusstsein ein: Die Ever Given zeigte, wie verletzlich Lieferketten sind. Wie rasch alles steht, wenn da ein Glied reißt, ein Rädchen blockiert. Und wie sehr das jede und jeden trifft.
Was das mit Radfahren zu tun hat? Viel. Nicht nur wegen jenes Memes, bei dem ein Pfeil auf einen Container des Frachters zeigte: „Deine Schaltgruppe ist genau hier.“ Der Witz war keiner: Die (angeblich) auf der Ever Given liegenden Schaltgruppen – und damit das Rad an sich – wurden zum Erklärmodell für globale Lieferketten.
Geschichten von Fahrradhändlern, die Kunden im Sommer 2021 auf Liefertermine im Herbst einschworen „aber: Herbst 2022“, fanden sich alsbald in vielen Medien. Klagelieder von nicht lieferbaren Ketten oder Bremsbelägen ebenso. Wer ein Kinderrad einer angesagten Marke sucht, zahlt für Gebrauchtbikes oft immer noch mehr, als für Neuware – die es eh kaum gibt.
An der Ever Given liegt das natürlich nicht: Vor der Havarie kam Corona. In den Lockdowns entdeckten Städterinnen und Städter das Fahrrad. Doch schon in den Jahren zuvor war der Bike-Boom im „Mainstream“ angekommen. Die Klimakrise und der Dauerstau im Stadtverkehr, aber auch der Mega-Hype um E-Bikes hatten das Fahrrad zum Sehnsuchtsobjekt aller Mobilität gemacht: Der Absatz stieg mancherorts um bis zu 40% an – und das über drei, vier Jahre hinweg. Der Handel tat, was logisch war: Er orderte vor Saisonbeginn mehr und mehr Räder bei den Herstellern – und die fuhren die Produktion hoch.
Dann kam Corona: Während in Europa noch mehr Menschen aufs Rad wollten, mussten in Fernost große Werke in den Lockdown. Aber auch wenn nur ein Kleinteil fehlte, stand alles. Ein Beispiel? Im Frühsommer 2020, der für Indoor-Fahrräder eigentlich toten Saison, wurden in Europa mehr „Smart Trainer“ bestellt als sonst das Jahr über weltweit. Smarttrainer haben einen Chip. Der ist meist ident mit dem bekannter Smartphone. Die wenigen Werke, die ihn produzieren, waren mit der Handychipherstellung aber bis Jahresende voll ausgelastet.
Ähnliche Geschichten lassen sich für fast alle Bike-Teile erzählen: Ketten, Bremsen, Reifen – sogar Speichen. Die Produktion war überall längst am Anschlag. Doch die Nachfrage stieg bei „normalen“ Bikes exorbitant und explodierte bei den E-Rädern – und im Lockdown fehlte dann eine Kleinigkeit – oder man musste zusperren.
Der nächste Schritt war klar: Ein seriöser Hersteller, der sieht, dass er heuer nicht liefern kann, reduziert die bespielbaren Mengen für das Folgejahr. Manche Händler konnten plötzlich nur ein Drittel ihrer Vor-Corona-Ordervolumina vorbestellen. Gleichzeitig rannten ihnen die Kunden die Bude ein …
Wieso das bei Fahrrädern so viel sichtbarer ist als – zum Beispiel – bei Autos? Weil der Automarkt bestenfalls stagniert. Der Radmarkt ist explodiert. Und viel kleinteiliger. Beispiel Marktführer Specialized versus Volkswagen. Fragen? Außerdem sind Autokäufer Wartezeiten bei Sonderwünschen schon lange gewohnt.
Wie es nun weiter geht? Es wird besser. 2023. Wenn nicht ein neuer Lockdown oder, so wie jetzt, ein Krieg auch alle friedlichen globalen Wirtschaftszusammenhänge weiter massiv in Mitleidenschaft zieht.
Am wenigsten betroffen ist von Wartezeiten und Engpässen übrigens, wer sich für Nischenmarken aus kleinen Läden statt Mega-Ketten interessiert: Kleine Manufakturen können flexibel und kurzfristig, fast auf Zuruf, bauen und liefern. Riesenwerke mit tausenden Mitarbeitern dagegen müssen Logistik, Produktion und Ressourcenmanagement lang- und längerfristig planen. Das macht unbeweglich: Da genügt oft eine Kleinigkeit – und alles steht. Mit einem Rattenschwanz an Folgeproblemen.
So wie bei der Ever Given.
Tom Rottenberg – Rotte – rennt und rollt, wenn er nicht als freier Journalist und PR-Berater arbeitet und sich Gedanken übers Rennen und Rollen, sprich Radfahren, macht.